2023 haben wir gemeinsam mit unseren Unterstützern ein Toilettenhaus für Waisenkinder gebaut. Bis dato erledigten sie das im Feld hinter dem Haus. Wie sie zu Waisen wurden und wie wir davon erfahren haben, darüber erzählt die Geschichte.
Vorher: Waschmöglichkeit im Freien. Keine Toilette. Keine Dusche. Danach: Toilettenhaus mit Waschbecken, Toilette und Dusche.
Die Geschichte dahinter
Katschuska blickte unruhig auf die Uhr. Seit zwei Stunden war es dunkel. Sie wippte mit dem Fuß hin und her. Warum war sie noch immer nicht zurück? Irgendwann schlief Sie im Sitzen ein. Ihre Geschwister neben ihr. Die Nacht war kühl. Als der Morgen kam, weckte sie die Dämmerung. Noch immer war ihre Mutter nicht zuhause.
2021. Während der Pandemie hatte der Staat mit einem nie da gewesenen Hilfsprogramm versucht, Arbeit zu schaffen. Wer mittellos war, konnte sich bewerben und bei Straßenbauarbeiten helfen. Steine schleppen. Beton anrühren. Gräben säubern. Dafür gab es pro Tag 35 Soles. 8,75 Euro.
Katschuska lebte zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Familie oben in den Bergen. Weit weg von Zivilisation. In einer Lehmhütte. Hinterm Haus Wiese und eine Hand voll Kühe. Wäre es nicht so bitterarm, würde man meinen, es sei ein echtes Bergidyll. Der Fußweg nach Curahuasi ist lang. Eine Stunde runter, zwei Stunden zurück. Katschuska und ihre Geschwister sind Halbwaisen. Der Vater war früh verstorben. Seither hatte die Gewalt im Haus wenigstens etwas abgenommen.
Als ich die Geschwister das erste Mal traf, wohnten sie schon fünfzehn Minuten näher am Ort. Das war am 22. Januar 2022. Dort hatte ihre Tante eine verlassene Hütte. Eigentlich für Tiere. Teilweise eingestürzt. Die Kinder übernachteten mit den Kühen im Stall. Seit dem Tod ihrer Mutter waren sie dort untergekommen. Über Nacht waren sie zu mittellosen, minderjährigen Waisenkindern geworden.
Die Todesumstände der Mutter sind bis heute nicht aufgeklärt. Fakt ist, dass zwei Missionarinnen sie auf dem Heimweg fanden. Bewusstlos am Boden liegend mit heruntergelassener Hose. Auf einem Trampelpfad unweit des Hospitals. Noch während der Rettung starb sie. Die folgende Reanimation in unserer Notaufnahme war erfolglos geblieben. Was wir wissen ist, dass sie nach der Arbeit auf dem Straßenbau mit den anderen bei uns im Amphitheater auf Covid-19 getestet wurde. Fast 50 Männer und eine Frau. Kurz vor fünf hatte sie das Hospital verlassen. Das konnten wir später mit der Aufnahme unserer Überwachungskamera nachvollziehen. Der Rest blieb im Dunkeln. Trotz aller Bemühungen wurde dieser Fall nie kriminologisch untersucht. Es handelte sich doch um eine mittellose Quechua aus den Bergen.
Ein Jahr verging und ich hatte sie schon fast vergessen. Da hörte ich, dass die Dorfgemeinschaft den Kindern mit einem Grundstück ausgeholfen hatte. Nach dem schrecklichen Tod war eine Sammlung organisiert worden. Einige aus Curahuasi und viele aus dem Hospital hatten sich daran beteiligt. Bauarbeiter hatten von diesem Geld einen Rohbau mit vier Zimmern errichtet. Im März erzählten Lena und ich in unserem „Missionsarzt-Podcast“ von ihrem Schicksal. Die Lebensumstände waren menschenunwürdig. Ohne Toilette. Ohne Abwasser. Ohne Strom. Ohne Fenster. Sie hausten hinter kalten Rohbauwänden. Und das seit Monaten.
Viele wollten helfen. Per E-Mail wurde ich gefragt, ob wir nicht etwas gemeinsam für diese Familie tun könnten. Hilfe ist gut. Aber nur, wenn sie Sinn macht. Immer wieder habe ich erlebt, dass gut gemeinte Hilfe nicht zielführend war. Ganz einfach, weil es nicht der Lebensrealität entsprach. Ich zögerte anfangs. Nur einfach Geld sammeln schien mir nicht die richtige Lösung. Wenn schon, müssten wir ein konkretes Projekt planen und das auch umsetzen. Doch eigentlich hatte ich jetzt schon genug Arbeit. Auf der anderen Seite gab es Podcast-Hörer, die helfen wollten. Es lag also nur an uns, ob wir die Hilfe annehmen und weitergeben würden.
Jesus sagte einmal zu seinen Nachfolgern: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Seine Jünger bezweifelten, dass sie genügend Lebensmittel für alle Anwesenden kaufen könnten. Jesus hatte dabei eine ganz andere Idee. Was er mit dieser Aufforderung eigentlich sagte, war dies: „Macht euch an die Arbeit. Ich kümmere mich um den Rest.“ Was folgte, war die Speisung der 5000.
Weitere Geschichten wie diese, findest du in meinem aktuellen Buch.
Eine Stunde kostete es mich, um einen kurzen Video-Clip zusammenzuschneiden. Diesen lud ich am 8. April auf den sozialen Medien hoch. 57 Sekunden lang. Um was es ging und was wir vorhatten. Wir waren natürlich im Vorfeld zu den Waisenkindern in die Berge gefahren und hatten sie gefragt. Ihre Antwort war eindeutig gewesen. Nicht Licht. Auch keine Scheiben. Keine Küche oder Verputz. Am dringendsten benötigten sie ein Toilettenhaus.
Überall in den Bergen Perus gibt es diese. Gebaut vom Staat oder gemeinnützigen Organisationen, um das Wasser zu schützen. Immer im selben Stil. Vier Wände. Ein Wellblechdach. Gegenüber der Tür ein Handwaschbecken. Daneben die Toilette. In der Ecke eine kalte Dusche. Vor dem Haus ein Becken, um die Wäsche zu waschen. Ungefähre Kosten: 3000 Soles, also 750 Euro. In wenigen Tagen gingen 1977 Euro für dieses Häuschen ein. Es konnte losgehen! Mit der Hilfe zweier Krankenschwestern aus unserem Hospital suchten wir nach fähigen Handwerkern und erledigten die Einkäufe. Wir schleppten Steine, Zementsäcke, Sand, Rohre, Holz, Putz. Und die sanitäre Anlage zur Baustelle. Das Zuhause liegt so abgelegen, dass es nicht mit Verkehrsmitteln erreichbar ist. Handarbeit war angesagt. Zum Schluss setzte der Schreiner die Türe ein. Endlich waren wir fertig. Das war am 18. Juni.
Einen Monat später schaute ich wieder vorbei. Ich wollte sehen, ob alles lief und ob sie sonst noch etwas benötigten. Von den Spendengeldern waren 1832 Soles übrig. Eigentlich sollte es mit dem nächsten Projekt gleich weitergehen. Dem Stromanschluss. Als ich ankam, fiel mir auf, dass überall Behälter gefüllt mit Wasser herumstanden. „Ist alles in Ordnung?“, fragte ich. „Läuft alles?“ „Ja, Doktor. Alles in Ordnung. Nur der Wasserhahn am Handwaschbecken ist etwas lose.“ Ich zweifelte etwas an der Aussage. Die Dusche war so trocken, als wäre sie tagelang nicht in Betrieb gewesen. Und wie gesagt, überall standen Behälter. Die kleine Schwester rückte irgendwann raus: „Die Zuleitung für das Wasser hinter dem Haus ist kaputt. Schauen Sie Doktor.“ Sie führte mich an die Stelle. Mit bloßer Hand konnte man die Wasserrohre an der Klebeverbindung voneinander trennen. Der Handwerker hatte aus Bequemlichkeit bei der Installation den Wasserzulauf nicht abgestellt. Unter vollem Druck hatte er die Verbindungsstelle geklebt. Diese war nach wenigen Tagen auseinandergefallen. Im vollen Strahl schoss jetzt hinterm Haus Wasser aus dem Rohr und beschädigte die Schlafzimmer. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als die Zuleitung abzustellen. Jeden Tag ging jetzt einer von ihnen den Berg hinauf, um kurz aufzudrehen. Alle verfügbaren Behälter wurden dann gefüllt und anschließend das Wasser wieder abgestellt. Das ging schon mehr als eine Woche so. Mit meinen Kindern fuhr ich zurück ins Dorf, um Material zu kaufen. Dann klebten wir das Rohr. Dieses Mal richtig. Seit dem 15. Juli haben sie jetzt wieder ein funktionierendes Toilettenhäuschen mit Dusche.
Entwicklungshilfe. Das ist ein großes Wort und ein veraltetes. Unsere Arbeit hier in Peru wird immer wieder als eine solche bezeichnet. Ich lehne das ab. Wir helfen Menschen auf verschiedene Weise ein lebenswerteres Leben zu führen. Was uns dabei motiviert, ist der christliche Glaube. Der Mensch steht im Vordergrund. Nicht eine ausländische Idee. Auch gut gemeinte Hilfe ist nicht immer hilfreich. Wie wichtig ist da, dass man vor Ort bleibt. Nahe an den Menschen. Nahe an ihren Bedürfnissen. Das hat mir diese Geschichte einmal mehr vor Augen geführt.