Sofia kommt aus Curahuasi und ist sieben Jahre alt. Am liebsten spielt sie mit ihren Freundinnen auf der Straße. Wenn sie groß ist, will sie einmal Ärztin werden.

14. August 2023. Ich saß in der Frühbesprechung der Ärzte, als mein Telefon klingelte. „Bitte schick den Anästhesisten in die Notaufnahme. Wir benötigen hier eine Intubation.“ Unser Kinderarzt war am Telefon. Dann spurteten wir quer durchs Krankenhaus.

Die letzten Tage hatte Sofia Halsschmerzen. Typisch für die Jahreszeit. Im August ist Winter in Peru. Ihre Mutter stellte sich mit ihr im lokalen Gesundheitsposten vor. Der Arzt vermutete eine Mandelentzündung und verschrieb der Kleinen Amoxicillin. Eine rot-weiße Kapsel. Zur täglichen Einnahme. Doch die Kapseln waren zu groß für ein Kind. Jedes Mal war es ein Kampf, bis Sofia sie herunterschluckte. Um das zu erleichtern, öffnete ihre Mutter die Kapsel und schüttete das Pulver heraus. Das verrührte sie mit Wasser. Einen Löffel voll. 

Wieder weigerte sich Sofia, die Pille zu schlucken. Erneut griff ihre Mutter Livia zur wohlvertrauten Methode. Sie zog die Kapsel auseinander. Dann gab sie den Löffel voll weißem Brei ihrer Tochter. Kaum im Mund schäumte das bittere Zeug und quoll heraus. Einen Teil hatte sie da schon geschluckt. 

Minuten später. Livia kämmte gerade die Haare von Sofia. Gleich würden sie aufbrechen, um in die Schule zu gehen. Da wurde das Mädchen mit einem Mal steif und fiel vom Hocker. Die Mutter wusste erst gar nicht, wie ihr geschah. Doch die anwesende Großmutter hatte schnell einen Verdacht. Erschrocken schnappte Livia nach Luft. Hatte sie gerade ihre eigene Tochter vergiftet?

Sofia und ihr jüngerer Bruder Santiago leben mit ihrer Mutter in Ayaurco. Das Viertel, in dem auch wir seit vier Jahren wohnen. Nur weiter oben. Hier gibt es kein sauberes Wasser. Keine Kanalisation. Sie haben eine kleine Hütte auf dem Feld. Der Vater ist oft abwesend. Deswegen beschloss die Familie, das Haus mit der Großmutter zu tauschen. Das ist genauso einfach gebaut. Aber näher am Ortskern. Zwei Zimmer. Eines, in dem sie schlafen. Eines, in dem sie Lebensmittel verkaufen. Nicht verputzt. Keine Tür. Nur ein Vorhang. Zwei Betten. Kein Schrank. Die Kleider liegen überall herum. An der Wand befinden sich eingesetzte Betonsteine, die zur Hälfte herausstehen. Sie dienen als Ablage. Darüber Nägel in den Betonfugen. Zwei Taschen hängen dort. Die obere mit bunten Streifen. Die untere eine Damenhandtasche in Schwarz. Seit Monaten wohnen sie hier. 

Im Eigenheim der Großmutter lebten schon vorher Katzen. Nachdem die Familie eingezogen war, machten diese Schwierigkeiten. Sie fraßen die Lebensmittel, die eigentlich für den Verkauf gedacht waren. Das ging so lange, bis es Livia zu bunt wurde. Ihre Großmutter knickte ein. Die Enkelkinder hatten Vorrang. Doch was sollte sie mit den Streunern machen? Verschenken? Verkaufen? Die Großmutter hatte eine Idee. Die Tiere müssten um die Ecke gebracht werden. Am besten mit Gift. In einem Leckerbissen aus Wurst könnte man ihnen das unterjubeln. Die Methode wäre todsicher. Nicht das erste Mal, dass die Großmutter sich so ungeliebter, vierbeiniger Mitbewohner entledigte. 

In Peru gibt es an jeder Straßenecke Läden, die neben Agrarprodukten auch Gifte und Pestizide verkaufen. In allen Stärken und in allen Formen. Beim nächsten Besuch im Ort kaufte die Großmutter dort ein. Eine rot-hellblaue Kapsel. Daheim angekommen, verließ sie der Mut. Sollte sie die geliebten Katzen wirklich vergiften? Sie brachte es nicht übers Herz. Und so verschwand die Giftpille in der bunt-gestreiften Tasche an der Wand. Zwei Monate gingen ins Land. Niemand dachte mehr an die Kapsel. 

7:30 Uhr. Die Familie machte sich bereit, um in die Schule zu gehen. Doch vorher musste Sofia noch schnell ihre rot-weiße Kapsel nehmen. Die Kleine kletterte die Ablage hoch, um ihre Tabletten aus der schwarzen Damenhandtasche zu holen. Ihre Mutter hatte sie dort deponiert. Und weil die Erfahrung der letzten Tage gezeigt hatte, dass die Kleine die Pillen nicht schlucken würde, öffnete die Mutter die Kapsel. Schüttete das Pulver heraus und verrührte es mit Wasser. Dann gab sie den Löffel ihrer Tochter. Keiner hatte in der Eile bemerkt, dass die Kapsel nicht rot-weiß, sondern rot-hellblau war. 

Kurz darauf wurde das Mädchen steif und fiel vom Hocker. Die Großmutter realisierte als Erste, was passiert war.


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Geistesgegenwärtig rannte sie auf die Straße und hielt ein Mototaxi an. Livia kam mit der krampfenden Tochter auf dem Arm hinterher. „Schnell zur Posta!“, schrie sie. „Mein Kind stirbt.“ Dort angekommen, verschaffte sie sich direkt Zugang zum Arzt. Dieser erkannte, dass das Mädchen in Lebensgefahr schwebte. Durch eine Vergiftung. Über eine Magensonde begannen sie, den Magen auszuspülen. Sofias Mutter stand hilflos daneben. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wie es zu dieser Verwechslung gekommen war. Was sie ihrer Tochter da verabreicht hatte, wusste sie selbst nicht. Irgendetwas, um Katzen zu vergiften. Die Großmutter hatte es besorgt.

Sofias Zustand verschlechterte sich. Wenn nicht bald etwas geschehen würde, wäre das Mädchen tot. Jedem war klar, dass die einzige Überlebenschance eine Verlegung zu Diospi Suyana sei. 

Der Anruf meines Kollegen erreichte mich um 8:15 Uhr. Eine dreiviertel Stunde nach der Einnahme des Giftes. Im Stechschritt lief ich mit dem Anästhesisten in die Notaufnahme. Martina John drückte bereits eine Sauerstoffmaske auf das kleine Gesicht. Im Hintergrund tönte der Alarm des Monitors. Krankenschwestern bereiteten die Intubation vor. Die Mutter saß um die Ecke an der Wand. Hilflos. Im Schock. Hinter ihrem Rücken kämpfte ihre eigene Tochter gerade ums Überleben. Der Kiefer war steif und ließ sich nur schwer öffnen. Bewusstlos lag die Kleine da. Mit weiten Pupillen, die nicht auf Licht reagierten. Ihre Atmung war tief und periodisch. Eine typische Kussmaulatmung. Die Vergiftung hatte zu einer bedrohlichen Azidose geführt. Das ist einer Übersäuerung des Blutes. Ihr pH-Wert lag bei 6,88. Lebensgefährlich! 

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch immer keine Ahnung, was die Mutter ihrer Tochter verabreicht hatte. Eins stand allerdings fest: sicher nicht das verschriebene Amoxicillin. 

Sofia wurde intubiert und maschinell beatmet. Die extreme Übersäuerung behandelten wir mit Natrium-Bicarbonat. Mit weiteren Medikamenten gelang es, die Kleine zu stabilisieren. Es folgte ein Schädel-CT. Würde sich dort eine Blutung oder Hirnschwellung zeigen, müssten wir die Therapie anpassen. Danach ging es auf die Intensivstation.

In der Zwischenzeit war die Großmutter zurück in den Ort gelaufen, um nachzufragen, welches Gift sie vor Monaten gekauft hatte. Nach der Beschreibung konnte es sich nur um eine Kapsel handeln: Strychnin. Endlich kam Licht ins Dunkel. Bis hierher hatten wir intuitiv alles richtig gemacht. Jetzt ging es darum, die Therapie noch feiner anzupassen. 

Die Dosis macht das Gift. So ähnlich formulierte es Paracelsus im fünfzehnten Jahrhundert. Das trifft auch auf Strychnin zu. 30 Milligramm können für einen erwachsenen Menschen tödlich sein. Das ist ungefähr die Dosis einer Kapsel. Es wirkt dabei vor allem im Nervensystem. Symptome wie Atemnot, Muskelzuckungen und schwere Krämpfe sind typisch. Diese können in kürzester Zeit zu einer Atemlähmung führen. 

Stundenlang lag Sofia beatmet auf der Intensivstation. Die Pupillen inzwischen etwas enger. Und auch die Laborkontrollen zeigten ein deutliches Ansprechen auf unsere Therapie. 

Am Nachmittag passierte das Wunder. Sofia wachte plötzlich auf. So schnell, dass keine andere Wahl blieb, als sie von dem Beatmungsschlauch zu befreien. Wenige Minuten zuvor waren wir nicht sicher, ob dieses Kind überleben würde. Ihr Hirn könnte so schwer geschädigt sein, dass sie für den Rest ihres Lebens ein Pflegefall sein könnte. Vielleicht dauerhaft beamtet werden müsste. Und jetzt das. Kurz darauf verlangte die Kleine nach Essen. Sie hatte unglaublichen Hunger. Wir standen sprachlos daneben. 

Diese Szene erinnerte mich an die Auferstehung der Tochter des Jaïrus. Die Umherstehenden hatten sie für tot erklärt. Bis Jesus an ihr Bett trat, ihre Hand griff und sprach: „Mädchen, ich sage dir, stehe auf!“ Dann befahl er den Eltern, dass sie ihr etwas zu Essen geben sollten. 

Sofia verließ nur zwei Tage später unser Hospital. Kerngesund. Als wäre nie etwas gewesen. 

Wir haben alles getan, um dieses Leben zu retten. Und dennoch bleibt es für mich am Ende ein Wunder. 

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