Montag, 31. Januar 2022. An diesem Tag begegnete mir Mario. Normalerweise ist es in unserem Hospital so, dass Patienten morgens um 6:00 Uhr da sein müssen. Es werden alle in einer Reihe aufgestellt und anschließend von einer Mitarbeiterin mit einem Megafon über alle wichtigen Dinge informiert. Neben Sicherheitshinweisen gibt es Informationen darüber, welche Fachrichtungen an dem heutigen Tag zur Verfügung stehen. Diese werden der Reihe nach aufgerufen. Mit einer kurzen Einweisung erfahren die Patienten, welche Krankheitsbilder in die jeweiligen Fachrichtungen fallen. Das lautet in etwa so: „Als Nächstes werden die Coupons der Pädiatrie verlost. 50 stehen zur Verlosung. Sind sie wegen Ihres Kindes da und ist dieses unter 15 Jahre, dann stellen sie sich jetzt bitte in die Schlange.“ Dasselbe gilt für die Gynäkologie, Urologie, Allgemeinmedizin, Zahnmedizin, Augenheilkunde und was wir sonst noch im Facharztangebot haben. Stehen alle in einer Reihe, nennt der erste Patient eine willkürliche Zahl zwischen 1 und 10. Wer auf diesem Platz steht, bekommt eine Markierung auf der Hand und damit die Zutrittsberechtigung. Die nächste Person nennt erneut eine Zahl. Und so weiter. Das geht so lange, bis alle Coupons verlost sind. 

Diese Form der Verteilung ist aus verschiedenen Gründen nötig. Zum einen wollen wir nicht, dass die Patienten die ganze Nacht vor dem Hospital kampieren. Würde es der Reihe nach gehen, wäre das der Fall. Zum anderen bevorzugen wir durch dieses Losverfahren unsere Zielgruppe - die mittellosen Quechua. Ein Reicher würde sich nicht freiwillig in diese Schlange stellen und seine wertvolle Zeit auf diese Weise verschwenden. Markiert werden die Patienten, damit die Coupons nicht weiterverkauft werden oder ein Reicher einen anderen für sich anstehen lässt. 

Neben diesem Losverfahren gibt es noch ein Notfallteam, das 24 Stunden am Tag da ist. Dieses besteht aus einer Pflegekraft und einem Arzt oder einer Ärztin. Wenn ein Patient um Mitternacht am Eingang des Hospitals den Pförtner herausklingelt, wird dieser umgehend eine Pflegekraft informieren. Vor dem Eingang befindet sich ein Triagezelt. Der Patient wird dort untersucht und die Vitalparameter werden gemessen. Abhängig vom Gesundheitszustand des Patienten wird ein Arzt dazu gerufen. Dieser entscheidet darüber, ob er aufgenommen werden muss oder vielleicht sogar noch in der Nacht eine Operation benötigt. In den meisten Fällen reicht eine ausführliche Untersuchung und Behandlung am Folgetag aus. 

An jenem Montagnachmittag klingelte mein Telefon. Ein Patient in kritischem Zustand wurde mir von der Pflegekraft aus dem Triagezelt angekündigt.


Diese Geschichte und noch viel mehr gibt es in meinem aktuellen Buch.


Mario, ein Mann mittleren Alters, lag wenig später auf meiner Untersuchungsliege. Begleitet wurde er von einem Freund. Er weinte vor Schmerzen. Sein Zustand war kritisch. Er war fast einen ganzen Tag aus dem Dschungel zu uns in die Berge gereist. Drei Tage konnte er schon nichts mehr essen und trinken. Alles, was oben rein kam, musste er direkt wieder erbrechen. Eine CT-Untersuchung seines Bauches bestätigte meine Verdachtsdiagnose. Leistenbruch mit Einklemmung einer Darmschlinge. Diese drohte abzusterben. Zudem ging nichts mehr durch. Unser Chirurg Lukas Steffen war noch im OP zu Gange. Als er spät am Abend herauskam, stellte ich ihm den Fall vor. Der Befund war eindeutig. Mario musste heute Nacht noch versorgt werden.

Zu dritt operierten wir ihn - zwei Chirurgen und ich als Urologe. Wir retteten ihm damit das Leben. In der darauffolgenden Woche erholte sich Mario gut. Bei der Morgenvisite erzählte er aus seinem Leben und welche dramatische Wendung dieses genommen hatte. Ich empfand diese Geschichte als so spannend, dass ich bei seiner Entlassung Jairo, einen Mitarbeiter aus unserem Medienzentrum, bat, mit ihm nach Hause zu reisen. Er bekam unsere Digitalkamera, mit der Bitte, die Fahrt und den Ort zu filmen. Freitags ging die Fahrt los. Hätte Jairo gewusst, was auf ihn zukommen würde, hätte er es sich zweimal überlegt. Die Reise bis zu Marios Zuhause dauerte 23 Stunden. Ein riesiger Umweg war nötig geworden, weil herabstürzende Wassermassen im Hochdschungel einen ganzen Straßenabschnitt weggerissen hatten. 

Trotz allem. Auch wenn diese Fahrt normal verlaufen wäre, die Reise in unser Hospital war für Mario eine Lebensgefährliche gewesen. Zu Fuß musste er an den Fluss laufen. Von dort mit dem Boot an die nächste Taxihaltestelle. Dann mit dem ersten Taxi nach Mazuco. Von Mazuco mit einem Weiteren nach Cusco. Dort wieder umsteigen und mit dem dritten Taxi bis nach Curahuasi fahren. Denn Mario lebt mitten im Dschungel von Peru. Genauer gesagt umgeben von völlig zerstörtem Dschungel. Illegale Minen und großflächige Abholzung haben dieses Paradies für immer zerstört. Die unendlichen Weiten lassen nur erahnen, mit welcher Brutalität dieser Lebensraum vernichtet wurde. 

Mario war wie viele in seiner Generation ohne gute Bildung und völlig perspektivlos großgeworden. Als Halbwaise nahm er in seiner Jugendzeit Gelegenheitsjobs an. Über die Jahre hatte er versucht, das Elend im Alkohol zu ertränken. Was dazu führte, dass er schlussendlich auf der Straße landete. Von nun an bettelte er Leute an, nur um die Zuwendungen umgehend in neuen Stoff zu investieren. Eines Tages bettelte er wieder. Doch dieses Mal überraschte ihn die Reaktion. Ein Mann seines Alters blickte ihn an und sagte: „Von mir bekommst du nichts. Du würdest es nur versaufen. Wir können aber etwas anderes machen. Du kommst mit zu mir nach Hause. Du hilfst mir mit den Tieren und bekommst dafür etwas zu essen.“ Mario willigte ein. Er hatte nichts mehr zu verlieren. So kam er in diese kleine Hütte mitten im Urwald. Der Mann hielt sein Versprechen. Er gab ihm nicht nur Brot, sondern auch Brot des Lebens. Er schenkte ihm eine Bibel und brachte ihm die hoffnungsvolle Botschaft der Errettung. 

Mario erzählte mir, dass er durch diesen Mann den Glauben an Jesus Christus fand. Und, dass dieser Glaube ihm geholfen habe, die Alkoholsucht zu überwinden. Heute ist er frei. Gemeinsam sind sie Teil einer kleinen Kirche mitten im Dschungel. Mario strahlte über das ganze Gesicht, als er mir von dieser lebensverändernden Begegnung erzählte. Dass er nicht mehr suchtkrank war, daran hatte ich keinen Zweifel. Tagelang war er auf unserer Station gelegen. Natürlich ohne Alkohol und jegliche Entzugserscheinungen. Der Mann, der ihn damals von der Straße holte, hatte ihm jetzt schon das zweite Mal das Leben gerettet. Denn er hatte ihn auch zu uns in die Berge gebracht. 

Ich werde bei meinen Vorträgen immer wieder gefragt, wie es denn sein kann, dass täglich hunderte Patienten vor unserem Hospital Schlange stehen. Manche fahren, wie Mario aus dem Dschungel, bis zu uns in die Berge. Andere nehmen Reisen von zwei oder drei Tagen auf sich. Aus allen Bundesstaaten Perus haben wir inzwischen Patienten registriert. Dabei ist Peru dreimal größer als Deutschland. Selbst aus dem Nachbarland Bolivien kommen einige. Dabei lassen sie unzählige, staatliche Kliniken links und rechts auf dem Weg liegen. Sie bevorzugen den mühevollen Weg bis in die Berge. Warum? Ein Grund ist sicher, dass wir mit Abstand die günstigsten Preise für modernste Medizin anbieten. Und einen Weiteren bekommen wir immer wieder zu hören: „Bei euch werden wir behandelt wie Menschen.“ Wir behandeln Menschen gleich. Unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, ökonomischem Status oder Religion. Bei Diospi Suyana ist jeder Patient gleich viel Wert. Weil wir glauben, dass jeder Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist. Das mag sich für einen westlichen Leser merkwürdig anhören. Sind nicht alle Menschen gleich viel wert? In Peru nicht. Wer Geld hat, kann sich die teuersten Behandlungen in einer Privatklinik leisten. Mit Zimmerservice inklusive. Doch wer hierzulande kein Geld hat, der ist nichts wert.

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